Mitleidsmüdigkeit

Compassion fatigue: Wenn zu viel Mitgefühl krank macht

Besorgt blickende junge Ärztin sitz auf einem Stuhl in einem Krankenhausflur.
Amely Schneider | 14.11.2022 | Lesedauer: 3 Minuten

Medizinische Fachkräfte brauchen die Fähigkeit, Mitgefühl zu empfinden. Zu viel Empathie kann aber zum Problem werden und zu Mitleidsmüdigkeit führen.

Mitleidsmüdigkeit: Was ist das?

In letzter Zeit fragt sich der Arzt oft, was mit ihm los ist. Wenn Patientinnen und Patientin über ihre Schmerzen klagen, verspürt er Gleichgültigkeit. Manchmal reagiert er ungeduldig und gereizt. In Gedanken wertet er das Leid der Betroffenen ab. „Die soll sich mal nicht so anstellen“, denkt er und erschrickt vor sich selbst. War er früher nicht mitfühlender? Was ist passiert?

Was der Arzt empfindet, könnten Anzeichen eines Phänomens sein, das in den USA bereits bekannter ist als hierzulande. Es heißt: Compassion fatigue. Auf Deutsch übersetzt: Mitgefühlsmüdigkeit. Dabei handelt es sich um einen Zustand der inneren Abstumpfung, emotional auf Leid zu reagieren. Dazu kommt eine tiefe Erschöpfung. Betroffene arbeiten vor allem in helfenden Berufen, also als Krankenschwester, Altenpfleger, als Ärztin oder Arzt, und sind in ihrem Alltag mit extremem Leid, Gewalt, Krankheit oder Tod konfrontiert.

Der Begriff „Compassion fatigue“ kommt aus der Traumaforschung

1995 beschrieb der US-amerikanische Psychologe Charles R. Figley das Phänomen zunächst an Menschen, die in ihrem Beruf regelmäßig mit traumatisierten Patientinnen und Patienten zu tun hatten.  Er beobachtete, dass einige von ihnen mit der Zeit unter ähnlich emotionalen Stress litten wie die Personen, die sie betreuten. Diesen Zustand nannte er „sekundäres Trauma“. Später nutzte er den Begriff Compassion fatigue.

Die Hand einer medizinischen Fachkraft liegt auf der eines Patienten.

Das Leid anderer mitanzusehen ist für die meisten Pflegenden sehr belastend.

Gereiztheit und Zynismus können Symptome sein

Auch während der Hochphase der Corona-Pandemie wurde vermehrt über Mitleidsmüdigkeit berichtet. Die Überlastung des Krankenhauspersonals und die Situation, dass viele Kranke und Sterbende nicht von Ihren Angehörigen besucht werden durften, erhöhten das Risiko, Compassion fatigue zu entwickeln. Dem medizinischen Personal fehlte es an Ressourcen, den emotionalen Stress zu verarbeiten.

Symptome einer Compassion fatigue können sein:

  • Fähigkeit zur Empathie ist reduziert oder fehlt
  • Gefühle von Ungeduld, Gereiztheit gegenüber Kranken
  • Fehlende Freude an der Arbeit
  • Wut, Traurigkeit, Ängstlichkeit
  • Stress, Ruhelosigkeit und Überforderung
  • Schuld- und Schamgefühle, weil man kein Mitgefühl empfindet
  • Leid der anderen wird abgewertet („So schlimm ist das doch nicht.“)
  • Zynismus
  • Schlafprobleme
  • Psychosomatische Symptome (z. B. Kopfschmerzen, Schwindel)
  • Rückzug, Medikamentengebrauch
Ärztin tröstet verzweifelten Patienten.

ÄrztInnen und Pflegende müssen in ihrem Berufsalltag das Leid anderer aushalten.

Fehlendes Mitgefühl ist ein Tabu

Betroffene von Mitleidsmüdigkeit sprechen oft nicht über ihr Problem, weil sie sich dafür schämen, kein Mitgefühl zu empfinden. Schließlich ist dies eine der Kernkompetenzen ihres Berufes. Doch gerade wer eine besonders ausgeprägte Fähigkeit zur Empathie mitbringt, hat ein höheres Risiko für Compassion fatigue. Denn besonders empathische Menschen empfinden das Leid eines anderen häufig wie eigenen Schmerz.

Der Versuch, solche Gefühle zu unterdrücken, um im Alltag zu funktionieren, kostet viel Energie und führt zu Erschöpfung. Studien haben ergeben, dass vor allem junge Berufseinsteigerinnen und Berufseinsteiger betroffen sind. Das liegt auch daran, dass ihnen Erfahrung fehlt, sie höhere Erwartungen an sich selbst haben und oft noch nicht wissen, wie sie mit solchen Gefühlen umgehen sollen.

Tipps zur Selbsthilfe bei Compassion fatigue

Um einer Mitleidsmüdigkeit aktiv vorzubeugen, brauchen Menschen, die in ihrem Beruf mit Opfern von Krankheit, Tod und Gewalt in Berührung kommen, regelmäßige Auszeiten von diesen belastenden Situationen. So können sie Abstand gewinnen und das Erlebte besser verarbeiten.

Als Pflegekraft und als Ärztin oder Arzt ist eine gute Work-Life-Balance essenziell für die eigene Gesundheit. Das bedeutet, dass neben der Arbeit auch genügend Zeit für Familie, Freunde und Freizeitaktivitäten bleibt und eine strikte Abgrenzung zwischen Beruf und Privatem besteht.

Zudem können Entspannungstechniken und Achtsamkeit dabei helfen, den emotionalen Stress zu reduzieren. Gut ist es, diese Techniken oder Rituale in den Alltag zu integrieren. Das können zum Beispiel regelmäßige Meditationseinheiten, Entspannungspraktiken oder kurze Atemübungen sein. Meditations-Apps sind dabei sehr hilfreich, da sie immer greifbar sind.

Wichtig für alle Betroffenen oder Menschen mit hohem Risiko für Compassion fatigue ist auch der Austausch im Team. Wer versteht die Probleme und Sorgen besser als diejenigen, die dieselben Sorgen teilen? Manchmal kann auch eine Supervision helfen.

Beim Thema Stressabbau spielt Bewegung ebenfalls eine wichtige Rolle, denn regelmäßiger und vor allem anstrengender Sport senkt nachweislich die Menge des Stresshormons Cortisol. Zudem fördert Bewegung einen gesunden Schlaf. Wer bereits länger Anzeichen einer Compassion fatigue an sich beobachtet, sollte sich professionelle Hilfe suchen – zum Beispiel beim Hausarzt, einem Psychiater oder Psychologen.

Gleicher Job, besser Work-Life-Balance?

Als Vertretungskraft bei doctari bestimmen Sie selbst, wann und wie viel Sie arbeiten. Registrieren Sie sich kostenlos und erfahren Sie mehr. Es dauert nur zwei Minuten.

Jetzt registrieren

Titelbild: iStock.com/gpointstudio

Autor

Amely Schneider

Inhaltsverzeichnis
Teilen
Mehr zum Thema
Anzeichen, Ursachen und Prävention
Burnout in der Pflege

Das Risiko für einen Burnout als Pflegekraft ist doppelt so hoch wie in der restlichen Bevölkerung. Tendenz steigend.

Zum Artikel >
Eine Pflegerin sitzt auf dem Boden und stützt den Kopf mit ihren Händen
Interkulturelle Medizin
Mit Empathie und Respekt gegen Vorurteile

Bei der Behandlung von PatientInnen erschweren manchmal nicht nur Sprachbarrieren die Verständigung, sondern auch kulturelle Unterschiede.

Zum Artikel >
Hände mit verschieden farbiger Haut umfassen jeweils den Arm einer anderen Hand. In der Mitte ist ein Herz zu sehen.
Gute Vorsätze für 2023
So werden aus Vorsätzen echte Veränderungen

Gute Vorsätze anzugehen, ist besonders für ÄrztInnen und Pflegekräfte schwer – denn es fehlt oft an Freizeit. So können sie dennoch umgesetzt werden.

Zum Artikel >
Feuerwerk vor dunklem Himmel als Grafik
Ratgeber Schichtdienst
Schlafprobleme nach der Nachtschicht? Diese 13 Tipps können helfen

Wer im Schichtdienst in einer medizinischen Einrichtung arbeitet, leistet Großes. Dabei sollte jedoch die eigene Gesundheit nicht vergessen werden.

Zum Artikel >
Ein Chirurg liegt im grünen Kittel und mit pinkfarbenen Schlappen in einem Krankenhausbett und schläft.
Die 5 besten Meditations-Apps
Die innere Ruhe steckt mit diesen Apps in der eigenen Tasche

Meditation senkt nachweislich Stress. Davon profitieren auch Ärzte und Pflegekräfte. Doch wie fängt man an? Meditations-Apps helfen. Das sind unsere Top 5.  

Zum Artikel >
Junge Frau steht mit geschlossenen Augen mitten in der Natur und meditiert.
Meditation für Mediziner
Entspannen im stressigen Krankenhausalltag

Meditieren reduziert nachweislich Stress und lindert Schmerzen. Das gilt selbst für kurze Einheiten – und die können auch am Arbeitsplatz gemacht werden.

Zum Artikel >
Eine junge Ärztin sitzt im Schneidersitz mit den Händen in einer meditativen Haltung unter freiem Himmel.
Werden Sie jetzt Teil von doctari und finden Sie Ihren Traumjob