Der Aufbau des Körpers interessierte Wissenschaftler bereits vor 2.400 Jahren. Der Weg führte über Tiersektionen bis hin zu öffentlichen Leichenöffnungen.
Aufschneiden und zergliedern – genau das meint das griechische Wort „anatemnein“. Es verlieh der Anatomie nicht nur ihren Namen, sondern trifft auch den Kern dessen, was sie vornehmlich betreibt: das Öffnen und Zerteilen des Körpers. Das lateinische Pendant, das in die Anatomie-Sprache ebenfalls Eingang fand, ist die Sektion.
Im 3. Jahrhundert v. Chr. fanden in der griechisch-ägyptischen Wissensmetropole Alexandria die ersten wissenschaftlichen Sektionen am menschlichen Körper statt. Das war außergewöhnlich, denn üblicherweise obduzierte man Tiere, um anatomische Erkenntnisse zu erlangen, die Ergebnisse übertrug man dann auf den Menschen. Bis in die Neuzeit galten die Arbeiten des Griechen Galenos von Pergamon (auch Galen oder Galenus, 122-199 n. Chr.) als federführend. Seine 15-bändige Abhandlung fasst das medizinische Wissen der antiken Ärzte erstmals systematisch zusammen.
Im 21. Jahrhundert entscheiden sich junge MedizinerInnen nur selten für die Fachrichtung Anatomie, also für die Lehre vom Körperbau. Das Statistische Bundesamt zählte im Jahr 2019 nur 51 FachärztInnen für Anatomie an deutschen Kliniken.
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Während sich der medizinische Fortschritt mehr und mehr in die arabische Welt verlagerte, lehnte man in Europa bis ins 12./13. Jahrhundert die Leichensektion bei Menschen ab. Ein offizielles Verbot der Kirche bestand zwar nicht, trotzdem stagnierte die anatomische Forschung bis zu Beginn der Neuzeit. Erst 1316 erscheint in Europa das erste Lehrbuch der Anatomie. Sein Verfasser Mondino dei Liucci aus Bologna hatte dazu zwei weibliche Leichen seziert.
Der Universalgelehrte Leonardo da Vinci (1452–1519) läutet auch in der Anatomie die Renaissance ein. Der Künstler und Wissenschaftler führte selbst anatomische Präparationen durch, die er in seinen weltberühmten und detailreichen anatomischen Zeichnungen verewigt. Der Fortschritt zeugt von einem sich verändernden Verständnis für den menschlichen Körper. Die Menschen im Mittelalter betrachteten ihn lediglich als vergängliche Hülle für die Seele.
Die neue Epoche blickt fasziniert auf seine Schönheit und lässt Kunstwerke entstehen, die heute noch den Atem rauben. Um den Körper so natürlich und exakt wie möglich abbilden zu können, griffen Künstler wie Botticelli, da Vinci und Michelangelo selbst zum Skalpell. Von da Vinci ist überliefert, dass er sogar Leichen vom Friedhof stahl, um Knochenaufbau, Muskeln und Haut an ihnen zu erforschen und sie in seinen Skulpturen wiederzugeben.
Mit dem jungen Chirurgen und Medizinprofessor Andreas Vesalius (1514-1564) bekommt die wissenschaftliche Anatomie die Anerkennung der Öffentlichkeit. Er dokumentiert minutiös die Beobachtungen, die er bei seinen Sektionen an menschlichen Körpern macht. Dazu seziert er eigenhändig und legt dabei Muskelapparate, Sehnen und Nervenbahnen bis in die kleinsten Verästelungen frei.
Als sein Hauptwerk „De Humani Corporis Fabrica“ (Vom Bau des menschlichen Körpers) 1542 erscheint, ist er 29 Jahre alt. Seine Sektionen werden zum Publikumsmagneten, sowohl für andere Wissenschaftler als auch für neugierige Laien aller Bevölkerungsschichten, wie das auf dem Cover seines Buches abgebildete Gedränge zeigt.
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Von dem anhaltend hohen Interesse zeugen „Anatomische Theater“ mit etlichen Rängen für den besten Blick aufs Geschehen. In den folgenden Jahrhunderten strömt die Öffentlichkeit, inklusive Ärzten, zu diesen Theatern, um die Leichenöffnung meist hingerichteter Menschen „mit eigenen Augen [zu] sehen“. Nichts anderes ist der Wortlaut des Fachbegriffs Autopsie.
Im 18. Jahrhundert machen anatomische Kunstwerke Furore, die teilweise noch heute zu bestaunen sind. Honoré Fragonard (1732 -1799), Anatom und Cousin des berühmten gleichnamigen Rokoko-Malers, verwandelt anatomische Ganzkörperpräparate in lebensecht anmutenden Skulpturen. Sie sind heute noch im Pariser Musée Fragonard zu sehen.
Mit Anbruch des 19. Jahrhunderts findet Anatomie nur noch unter Ausschluss von Laien statt. Der Rückzug aus der Öffentlichkeit hinter die Türen von Universitäten und Kliniken schärft den Blick fürs Detail. Von den Grundzügen der makroskopischen menschlichen Anatomie, die sich der Betrachtung von zerlegten Organen widmet, hat sich die medizinische Wissenschaft mehr und mehr der Erforschung der kleinsten Bestandteile des Körpers im mikroskopischen Bereich zugewandt.
Heute sind Fachärztinnen und Fachärzte für Anatomie in der medizinischen Forschung und Lehre an anatomischen Instituten sowie in Krankenhäusern und Hochschulkliniken tätig. Nach wie vor befassen sie sich mit dem Aufbau, Aussehen und dem Zusammenwirken des menschlichen Organismus.
Selbst wenn es mit Blick auf die heutigen Darstellungsmöglichkeiten der Medizintechnik paradox erscheint: Das Studium des toten Körpers und die daraus selbstständig gewonnenen anatomischen Kenntnisse sind nicht zu ersetzen, wenn angehende ÄrztInnen ihr Ziel erreichen wollen, Leben zu erhalten und zu heilen. So ist und bleibt die alte Lehre vom Körperbau das größte und wichtigste Fach im vorklinischen Teil des Medizinstudiums – aber bisweilen auch der Schrecken von Studierenden.
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